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Leseprobe


Leseprobe aus „Schlotzer für a Zehnerle“

Dorfgespenster oder drei Häfeler          [Mitte Nov. 1962]

Ein letzter lauer Novemberabend, kurz nach Martini lockte noch manchen Dörfler aus dem Haus. Es hatte vor Tagen bereits die ersten Schneegestöber gegeben. Till war bei seinem Freund Bernhard. Bernhard hatte kürzlich Geburtstag. Als Geschenk bekam er einen Märklin-Metallbaukasten. Aus den vielen bunt lackierten Schienen und Schraubverbindungen wollten sie den Eiffelturm bauen.

Nebenan, im großen Wohnraum der Meiers, welcher Küche, Ess- und Wohnraum zugleich war, saß Bernhards Onkel Felix. Frau Meier betrieb eine Flaschenbierhandlung. Besonders in der kalten Jahreszeit setzte sich mancher ihrer abendlichen Stammkundschaft auf ein Bier an den kleinen Tisch gleich hinter der Eingangstür. Solange es nicht zu kalt war begnügten sie sich mit der großen Gartenbank im Hof. Neben dem massiven Esstisch gegenüber der Küchennische saß Frau Meier an ihrer Nähmaschine. Sie nähte Vorhänge in Heimarbeit. Bernhards Vater, der örtliche Postbote las Zeitung. Es klopfte an der Nebeneingangstür, der „Ladentür“.

„Bernhard guggsch Du mol, wer draußa isch!“
Bernhard öffnete, es war der Brettles-Kurt. Seine laute Stimme mit ungarndeutschem Akzent kannten alle.
„Guta Obend mitanander – ach Felix bist Du au do.“
„Ja und Du – hosch Du mal Ausgang kriegt von deiner Liebsten. Ach so, heut ist ja Singstund. Ausgehzeit für den Kurt. Bist aber recht früh dran.“
Felix und Kurt waren zusammen in die Dorfschule gegangen. Kurt nun seit einem Jahr verheiratet, Felix dagegen noch Junggeselle. 'Dem muss man noch extra eine Braut backen, damit der endlich mal bei Einer anbeißt', urteilte Frau Meier über ihren zwölf Jahre jüngeren Bruder.

Kurt wandte sich zu Herrn Meier: „Florian, i kumm zu Dir, weil i doch den Pacht zahle muss, schließlich is Martini schon gewese.“
„Ja, da komm her, setz di na. Trinksch a Bier?“
„Ha jo, gern.“
Der Pachtzins war schnell beglichen, Kurts Mutter hatte ein kleines Gartengrundstück von den Meiers gepachtet, in dem sie neben Bohnen und anderem Gemüse hauptsächlich Ribiselsträuche pflegte. So wurden die roten Johannisbeeren in ihrer ungarischen Heimat genannt.

Kurt war Zwölf als er mit seiner Mutter nach dem Krieg im Dorf ankam. Sie waren aus ihrer Donauheimat bei Pécs vertrieben worden. Kurts Vater war, wie viele junge Männer von der Waffen-SS angeworben worden und im letzten Kriegsjahr gefallen.

Die Flucht nach der brutalen Vertreibung fand schließlich ihr Ende in Auental, wo der fußballbegeisterte Kurt Pauschl seinen Schulabschluss machte. Mit dreizehn ging er zum alten Schreiner-Erwin in die Lehre. Erwins meist gesprochenen Satz hatte er sich schnell gemerkt: ‚Lang mir mol sell Brettle rüber‘. Diesen hatte er auf seine Weise bei den Dorfkameraden nachgeäfft. Bei Kurt wurde daraus: ‚Gib mi mol des Bräddle rüba‘. So wurde aus dem Pauschl-Kurt der Brettle-Kurt.

Aus den Ribiseln machte die alte Pauschl jedes Jahr ihren zuckerstarken Johannisbeerwein, der schon manchen, welcher den Alkoholgehalt unterschätzte, ‚umgehauen‘ hatte.

„Ischt denn der Träubleswein scho fertig? Dies' Johr send die Sträuch' ja wieder voll gehanga“, wollte Felix wissen.
„Der wird so gut wie jeds Johr. Weißt no, wo du den zum erste Mal probiert hast?“ gab Kurt zurück. Dieses erste Mal endete für den jungen Felix mit einem fürchterlichen Kater am nächsten Tag.

„Also Kurt, jetzt trinked mir no en Schnaps, no isch des Pachtg'schäft für dies Johr erledigt. Felix trinksch au oin mit?“
Florian hatte den Klaren bereits aus dem Küchenbuffet geholt und die Gläser gefüllt. Ein allgemeines ‚Prost‘ erklang durch die Wohnküche.
Während Kurt und Felix sich unterhielten, vertiefte sich Florian Meier vertiefte wieder in die Tageszeitung und kommentierte: „Jetzt will wohl der Adenauer bald aufhöre, na ja, alt gnug wär er ja. On der Erhardt solls dann macha.“
„Der Ehrhard mit seine dicki Stumpa“, ergänzte Kurt.
Felix zu Kurt: „Z'erscht kommt die Politik und dann noch ‚s Wetter. Aber s isch au wirklich grad gar nix los in onserm Flecka.“
„Kurt sah seinen Freund herausfordernd an: „Warum, wills‘ vielleicht Tanze gehe, a Madl ausführe? Aber du bist ja immer no nit auf de Gschmack kumma.“
„Älles braucht sei Zeit. Du kommst ja jetzt bloß noch aus dem Haus, wenn du Pacht zahle musst. Und wenn dei Rosi in die Singstund goht.“
„Ja und du sitzt alle Obend bei deiner Schwester rum.“
„De Richtig kommt scho no, man muss halt warte könne.“
Kurze Stille, Zeitungsrascheln, Nähmaschinengeräusch.
In die andächtige Stille seufzte Kurt:
„Es is aber au wirklich nix los bei uns. Komm Florian schenk no en Schnaps ei auf dui Pacht, so jung komme mir nimme z'samm. Den zahl i“, fügte er hinzu.
„Und a Fläschle Bier – langt's des noo?“ Felixs Frage galt mehr seiner Schwester als dem Hausherrn. Die drehte sich kurz um, schaute zur Uhr und meinte:
„Aber dann isch Schluss, mir send doch koi Wirtschaft. Außerdem: wenn ma bloß do herinne sitzt, dann kriegt ma au net mit, was draußa em Dorf los ist.“

Florian war mit dem Zwetschgenwasser am Einschenken. Felix fragte ihn: „Wie meint se dees? Wo ist denn heut was botta [geboten]? Du als Postler must doch des wisse!“
„Ha ja – beim Schneiderbauer geit’s heut Metzelsupp“, ließ sich schließlich der Gefragte entlocken.
„Woos - bein Josef wird die Sau g'schlachtet?“ Felix und der Brettle-Kurt sahen sich grinsend an. Mit dem 'Seppe' und dem Postler-Florian spielten sie gelegentlich Binokel.
„Ha, do müsse mir doch mol kurz vorbeigugga!“
„Auf euern Besuch wird die Schneiderbäuere grade noch warte“, kommentierte Frau Meier.
„Da kann di gar nix mache – mir kummed als Häfeler“, rief der Kurt.
„Genau!“ bestätigte Felix.
„Ihr, Als Häfeler! Des glaubsch ja selber net. Des gibt’s doch gar nimmer, des Häfelen.“
„Was – des Häfelen - des geit’s immer noch.“
Till und Bernhard waren ins Zimmer gekommen.
„Was isch denn Häfelen“, fragte Till Felix.
„Des isch ein, ja wie soll ich sage: Ein unverhoffter Besuch dort, wo grad eine Sau geschlachtet wird. Verstehsch?“
Till schaute zu Bernhard, beide zogen die Schultern hoch und schüttelten den Kopf.
„Ganz oifach: Man goht – verkleidet damit man nit erkannt wird - mit einem Hafen, so einem Kochhafen abends zu dem Haus wo a Sau geschlachtet wird, klopft ans Fenster und hebt den Hafen hoch.“
„Und dann?“, wollte Till wissen.
„Wenn man Glück hat wird in den Hafen heißes Kraut, ein Stück Kesselfleisch oder eine frische Darmwurst, oder ein Blenzle, hineingelegt.“
„Und wenn man kein Glück hat“, wollte Till wissen.
„Jaa, die Einen schütten ihren sauren Most rein, bei Andere kriegt man a ‚kochtes Sauerkraut mit einer Sägmehlwurst“, klärte Florian die Buben auf.

„Sägmehlwurst, pfui Deufel“, entfuhr es Bernhard.
„Und wie macht man Sägmehlwurst“, wollte Till wissen.
„Ha ganz oifach, man nimmt des gerührte Blut, mischt des mit Sägmehl an und füllt damit einen Darm, so dass des aussieht wie frische Blutwurst, eben wie ein Blenzle. Und des isch dann extra für die unerwünschte Häfeler.“
Felix wandte sich an die Jungs: „Till, Bernhard, Ihr geht jetzt nüber zu meiner Mutter und sagt zu ihr, dass ich den Rupfensack fürs Häfelen brauch und des Milchkännle.“
Till und Bernhard gingen los. Till schaute unterwegs noch schnell zu Hause vorbei: „Mama, darf ich heut no a bissle länger beim Bernhard bleiben?“
„Ja, warom denn?“
„Mir müsset dem Felix den Rupfensack und sei Milchkännle bringe, wega dem Häfelen.“
„Häfelen? Ach du meinst Häfela, mir saget doch „Häfela“. Ja, bei wem wird denn g‘schlachtet?“
„Beim Schneiderbauer“, kam es aus zwei Bubenmündern.
„Aber do könnt ihr zwei doch net mit? Was meinscht du, Franz?“ Sie wandte sich an Till's Vater, der sich eben in einen Western-Roman vertiefen wollte.
„Ha, warum net. Des isch doch a schöne Tradition und a ganz neue Erfahrong für die Buba. Aber komm net so spät heim, Till.“
„Äh halt Till“, Vater Franz war noch etwas eingefallen, „du hast doch noch die gekleisterte Fasnetsmaske. Die nimmsch du mit.“
Till und Bernhard grinsten sich an, eilten mit der Maske davon und brachten bald darauf den Rupfensack und das Milchkännle zu Meiers. Christan und Kurt stießen mit ihren Flaschen an und leerten sie in einem Zug.
„Jetzt kanns losgange. Ich hab mein Rupfesack und der Till hat sei Maske - aber du Kurt, was mache mir mit dir?“
„Ich hob doch mein Parka mit Kapuzn.“
„Do fehlt aber no ebbes“, meinte Felix und schritt zum Küchenherd. Mit zwei Handgriffen hatte er rußgeschwärzte Finger und eh sich der Brettle versah, war er im Gesicht schwarz wie der Mohr bei den heiligen drei Königen.
„So, fertig isch dr Neger. Jetzt passt‘s. Aber Florian, mir brauched no en Stecken, für des Milchkännle.“
Florian verstand und hatte auch schnell den gewünschten Stock zur Hand. Aus einer Schublade holte er eine Schnur, so wurden Stock und Kännchenhenkel miteinander liiert.
Felix zog den Rupfensack über den Kopf. Erst jetzt konnte man sehen, dass dieser in Augenhöhe zwei größere Löcher hatte.
„Jetzt geht’s los. Josef, mir kommet! Auf geht’s Männer.“
„Aber du bleibst do, Bernhard“, rief Frau Meier ihrem Sohn zu. Auch ihr Mann meinte: „Zu viert, das geht net beim Häfelen, eigendlich isch ma do bloß zu zweit, höchstens zu dritt.“
Bernhard musste sich wider Willen fügen. „Mach's gut Till und erzähl mir morgen älles.“

Um ungesehen zu bleiben wählten sie den dunklen, schmalen Fußpfad durch die Hausgärten.
Sie wollten hinter der Kirche, seitlich des Dorfplatzes die Hauptstraße überqueren. Hierhin reichte der Schein des über die Straße gespannten elektrischen Lichtes nur noch schwach. Von der Straße her zog eben ein Bauer eine Kuh am Strick über den Dorfplatz. Es war der Erlenbacher, der mit einer Kuh eben vom Farrenstall kam, um seine Kuh besamen zu lassen. Am Ende des kleinen Dorfplatzes blieb die Kuh stehen um ihr verdautes Futter loszuwerden. Ein dicker Fladen klatschte auf den Schotterweg. Die drei Häfeler sahen den warmen Dampf des Fladens aufsteigen, während Bauer und Kuh gemächlich weiter trotteten.
Nicht weit davon, zwischen Kirche und Dorfplatz gab es ein abgelegenes Plätzchen mit einer Gartenbank, von einem großen Weißdornbusch halb umhüllt. Im Dorf nannte man es den „Knutschwinkel“, weil dort gerne Liebespärchen, oder solche die es werden wollten, erste Küsse austauschten.
„Halt“, flüsterte Felix.
„Wos is“, wollte Kurt wissen.
„Do, gugg“.
Zwei Gestalten näherten sich Hand in Hand der stillen Bank. Ein junger Mann und eine junge Frau mit hochtoupierten Haaren, einem dunklen, weiß gepunkteten Petticaotkleid und ebenso weißen Stöckelschuhen.
„Die is net von hier, die kummt uss dr Stadt“, wusste der Brettle-Kurt fachmännisch zu beurteilen.
„Psst“, raunte Felix. “Des isch doch der Sohn vom Rechner von dr Darlehenskass, der will au Bänker werde.“
Das Pärchen setzte sich auf die Bank, hinter der die drei Häfeler, vom Weißdornbusch verdeckt, standen.
„Da, siehst du es Helmut, Kuhfladen, das ist doch wirklich eklig. Nichts als Kuhfladen gibt es in diesem Nest.“
„Ja, 's isch halt so auf dem Dorf. Morgen gehen mir wieder in d' Stadt zum Tanzen. Für unser Nest bist Du ja sowieso viel zu schick. Wobei - die Kamerade hier, die würdet mich ganz sicher alle beneide.“
„Weißt Du, Helmut, ich mag Dich ja wirklich, aber bitte versteh mich. Ich meine, ich möcht schon sehen, wo du zu Hause bist. Aber hier – hmm, gibt’s ja wohl gar keine Kultur, außer dass sich Fuchs und Hase 'Gute Nacht' sagen. Hier ist wirklich nichts los.“
„Doch“, flüsterte er und gab ihr einen Kuss, den sie gerne erwiderte.
Nichts los! Nein - das konnten sich die Häfeler nicht nachsagen lassen. Das war ihr Auftritt! Wie aus dem Nichts standen die Dorfgespenster vor dem innig verschlungenen Pärchen:
„Von wege nix los“, polterte der Brettle-Kurt und hüpfte vor den Beiden hin und her.
„Huiih, hier sind sogar die Goischter los“, raunte Felix und fuchtelte mit den unter dem Rupfensack heraushängenden Armen. Till mit seiner grimmigen Fasnetsmaske schüttelte das Milchkännchen.
Für einen Augenblick herrschte Schockstarre bei den Verliebten ehe die junge Frau mit einem Angstschrei davon stürzte. Doch nach wenigen Metern blieb sie wie angenagelt stehen, blickte hinunter zu ihren Schuhen und sah, dass sie mit dem rechten Fuß tief im Kuhfladen steckte.