Kopfbild für Karl J. Schönweiler
Leseprobe

Leseprobe aus „Dezemberlicht”


7. Dezember

Ast mit Schnee
Duftet die Rose

Nachtschleier besänftigen 
das aufkeimende Licht

Die Horizontlippe 
lüftet Geheimnisse 
des jungen Tages

Verwaist harrt geduldig das Vogelhäuschen
in sachter Rührung zittern die dünnen 
Verästelungen des Nussbaumes 
dürftig geschützt
durch die eigene Haut

Federleicht spielen Flocken 
im kalten Hauch 
verwehen die Spur durch den
versunkenen Dornenpfad

Zwischen kosmischer Stille 
und frühem Vogellaut
erblüht über dem Augenrand
die Morgenröte

duftet die Rose 
in einer anderen Welt


8. Dezember

Meine Seele preist die Größe des Herrn und
mein Geist jubelt über Gott meinen Retter.

Lk 1,46-1,47

Maria im Schnee

Maria Sie hätte natürlich schwanger werden können (seit der Verlobung galten sie als Paar) und doch war alles ganz anders seit seit dieser geflügelte Bote bei ihr war groß und schön Nein – sie hat ihn sich nicht eingebildet er war da Allein schon seine Erscheinung dann dieser Gruß sie – eine Begnadete ein Kind Kraft des Höchsten? Was sind Worte des Menschen ein unbeschreibliches Gefühl erfasste sie als sie ihre eigene Antwort vernahm Dienerin des Herrn. Sie zog hinauf zu Beth in ein Dorf im Bergland um das Unmögliche zu fassen Und der Gruß der Gefährtin gab der Gesegneten die Gewissheit: noch wenige Monate


29. Dezember

Lieber Jusuf,


die Winterlandschaft legt sich im Dämmerlicht um den Berg. Unter einem blassen Horizontstreifen erlischt die Silhouette der Alpen. Von der Höhe sind sie das Entfernteste, welches das Auge wahrnehmen kann. Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, du stündest neben mir. Nah und zugleich unerreichbar. Fragen und Mutmaßungen beschäftigen mich, während ich in Gedanken meinen Brief entwerfe.
Ob er dich je erreichen wird, bleibt ungewiss. Dennoch muss ich schreiben. Schreiben über dich, über uns, über gemeinsame Lebenswege. Schreiben über das, was gestern noch gegenwärtig war und wir uns als Bestandteil unserer Zukunft vorgestellt hatten.

Diese überstürzte Ausreise! Gewiss, ich kann deine Reaktion verstehen auf diesen blindwütigen Fremdenhass, der über dich mit barbarischer Gewalt hereinbrach. Eine Zufalls-Begegnung mit gewalttätigen, rechtsradikalen Typen. Dabei warst du doch längst kein Fremder mehr.
„Es gibt keine Zufälle”, höre ich dich sagen. „Für euch ist Fremdenhass nur ein Begriff. Verstehen kann es allein, wer in der Fremde lebt und dieses Fremdsein fühlt.”
„Sicher gibt es eine Minderheit von Fremdenhassern aber gesellschaftlich und politisch gehören wir doch zu den tolerantesten Ländern der Welt”, war unsere wenig überzeugende Antwort.
„Toleranz ist ein schwaches Wort”, hast du uns erklärt. Wir hätten bessere Worte, wie Nächstenliebe. Doch dies sei dem Menschen nicht einfach in die Wiege gelegt, man müsse sie täglich pflegen, wie seine Zähne. Die Liebe zum Nächsten, die nicht unterscheidet nach Hautfarbe und Religion.
„Viele in diesem Land haben ein ablehnendes Verhältnis zur christlichen Religion. Begreifen nicht, dass sie zu unseren Wurzeln gehört.”
Inzwischen kannten wir deinen Standpunkt und sahen in dir den maronitischen Christen aus dem Libanon, der nach deutschem Recht mit einer aus Tel Aviv stammenden Israelin verheiratet ist.

Es habe mit verbalen Beleidigungen begonnen, abends, in der Fußgängerzone. So steht es im Polizeibericht. Die typische Anmache mit Ausländer-raus-Parolen. Sie hätten sich hineingesteigert in ihrem Rausch aus Alkohol und Fremdenhass, dich schließlich brutal zusammengeschlagen.
Nun bist du fort, weil weder Toleranz, noch das Gesetz dich schützen konnten in diesem Land, in dem Menschen hilflos wegschauen, wenn Mitmenschen, nicht nur Ausländer, geschlagen werden. „Ein Land, in dem Liebe allzu oft mit Hollywoodfilmen verwechselt wird.”
Und mit dir auch Mirjam, die bald ein Kind zur Welt bringen wird. Ein Kind, das nicht von dir ist. Du wusstest dies von Anfang an. „Es ist kein ‚Problem’ für mich. Nein, gewiss nicht. Das hat auch nichts mit Toleranz zu tun, das ist einfach Liebe, Vertrauen, für einander da sein, zu wissen, dass man zusammengehört.”

Hohenstaufen