Kopfbild für Karl J. Schönweiler
Leseproben aus "Die Haarnadel des Engels"
Roman mit religionsphilosophischem Hintergrund


Magdalenengasse

   StahlEngel Ja, sie wollte diese fremde Lust, die ihr eigentlich nicht gehörte spüren, erleben. Dieses Unmoralische, Unerlaubte, Verbotene voll und ganz auskosten. Tief und allumfassend, mit jeder Faser ihres Körpers, mit all den wahrnehmbaren Empfindungen einer Frau. Für ihn war es eher eine Liebesfeier, die er mit jeder Bewegung, mit jeder Berührung intensiv erlebte. Gleichzeitig war er darauf bedacht, dass sie dies ebenso intensiv erfassen sollte. Langsame kaum merkliche Berührungen ihrer Haut mit seinen Fingerkuppen oder mit der flachen Hand; zarte, gehauchte Lippentupfer, dann wieder stürmische Küsse und immer wieder sah er ihr in die Augen. Schon bei der ersten, zögernden Annäherung nahm er diesen fremden, süßen Duft wahr, den er seit ihrer ersten Begegnung im Gedächtnis trug.

   Antonia gab sich dem Spiel vollkommen hin. Nur sie beide, sonst nichts. Und doch: Mit einem Mal sah sie ihn unter sich. Sah in seinem lustvoll verklärten Gesichtsausdruck diese Tarot-Figuren. Und sie alle lachten: Der Wagenlenker und die Sphinxen, die Liebenden und der Engel, der Tod und der Beter. Allen war ein so ganz und gar befreites ruhiges Lächeln eigen, ein eher stilles, wissendes Lächeln. Von irgendwo glaubte Antonia ein beschwichtigendes Flüstern zu hören und sie wusste, es klang falsch: Du bist nicht Eva. Sie schüttelte vehement den Kopf, als wolle sie etwas abschütteln. Ihre Haare streiften über seinen Brustkorb. Doch sogleich war sie wieder ganz bei ihm. Um sie herum vernahm sie ein leises Singen und Knistern, als würde ein sanfter Wind über ein reifes Roggenfeld streichen. Sie sah das Wogen im Roggenfeld und die ruhig fließenden Sanddünen. Und sie fühlte tief in ihrem Inneren: So entsteht Leben. Und zugleich dachte sie: Natürlich bin ich Eva! Genau wie Jule, wie meine Mutter und meine Großmutter. Genau wie jenes Urweib, das den Mann verführte und später unter Schmerzen ihre Kinder gebar.