Kopfbild für Karl J. Schönweiler
Leseproben aus "Die Haarnadel des Engels"
Roman mit religionsphilosophischem Hintergrund


Kunsthaus Kamasutra

StahlEngel

   Antonia und Johannes hatten sich im Kunsthaus verabredet.

   „Diese phantasievolle Kunst! Diese Gottheiten, mehrköpfig, vielarmig. Und diese Paardarstellungen, anfangs dachte ich, das wären nur erotische Liebesszenen, eine höhere Bedeutung wäre mir nie in den Sinn gekommen. Am schönsten finde ich dieses kleine Figurenpaar, in sitzender Stellung. Diese beiden engumschlungenen, goldenen Figuren. Ob nun göttlich oder königlich, von hohem Adel.“

   Antonia sprach von der kleinen Skulptur der tibetischen Schutz-gottheit Sitasamvara mit seiner Partnerin Vajravarahi aus dem 16. Jahrhundert.

   Johannes versuchte seinen Blick unbefangen zu halten. „Im asiatischen Raum, ob hinduistisch oder buddhistisch, gibt es vielfach sehr erotische Darstellungen. Das ist eine Yab-Yum-Skulptur. Die Darstellung einer männlichen und einer weibli¬chen Gottheit. Diese angedeutete sexuelle Vereinigung findet man häufig im tibetischen Buddhismus. Sie steht jedoch nicht immer, oder nicht ausschließlich für den Geschlechtsakt, sondern vor allem für die mystische Aufhebung von Gegensätzen. Sie zeigt symbolhaft die Überwindung jeglicher dualistischer Wahrnehmung.“

   „Also das vollkommene Eins Werden in einer solchen Stellung?“

   „Wie gesagt, es ist nicht nur die sexuelle Vereinigung, es zielt im Grunde auf eine höhere Ebene, außerhalb unseres Denkens und Fühlens. Yab-Yum bedeutet übrigens Vater-Mutter.“

   Ihm war, als wolle sie ihn mit dem erotischen Thema ein wenig necken.

   Sie suchte einen neuen Ansatz: „Stehen diese Darstellungen in einem Zusammenhang mit dem Kamasutra?“

   „Mit dem Kamasutra …“, überrascht ließ er das Wort merklich auf der Zunge zergehen, musste gleichzeitig kurz nachdenken. „Interessanter Gedanke.“

   Ihm sei diesbezüglich kein Zusammenhang bekannt. Das Kamasutra gelte als Leitfaden der Erotik und der Liebe, verfasst um zweihundertfünfzig nach Christus in Indien. Über eine Verbindung dieser viel später entstandenen Yab-Yum-Darstel¬lungen habe er noch nie nachgedacht.

   Ob er das Buch gelesen habe, wollte sie wissen. Wieder diese neckische Koketterie um ihre Mundwinkel.

   Das Kamasutra? Mit einer spitzbübischen Lippenbewegung spielte er ihr Spiel mit. Scheinbar sachlich: Nein, es stünde nicht auf dem Studienplan. Ob sie es denn kenne?

   Sie schüttelte den Kopf, ihm war als lag ein Anflug von Errötung auf ihren Wangen.

Da war dieses Knistern, als würden zwei blanke Drähte, die unter Strom standen, sich zu nahekommen. Aus dieser Beinahe-Berührung entstanden Funken, kleine glänzende Sterne. Seine Augen, ihre Augen, die Augen von Yab und Yum, sie alle sahen dasselbe, formten mit den Augen des anderen dasselbe Verlangen. Das alle Sinne überflügelnde Sein im Anderen.