Kopfbild für Karl J. Schönweiler
Leseprobe

Leseprobe aus „Orte wo Heimat”


Nordmähren – Sudetenland 1945 / 1946
Blattendorf im Kuhländle


„Vom Bürgermeister bekamen wir zwei Pferde und einen Leiterwagen mit Plane. Dazu gab er uns noch ein geschlachtetes Schwein, dessen Fleisch eingesalzen und in einem Holztrog verstaut wurde.

Der Treck - endlose Kolonnen gen Westen. Auf der rechten Seite fuhren wir, auf der linken Seite das Militär, das sich auf dem Rückweg befand. Einmal in der Kolonne gab es keinen Rückweg mehr. Andauernd wurden wir von angreifenden Fliegern beschossen.
Einmal konnten wir uns über das freie Feld laufend gerade noch auf einen Bauernhof retten. Es gab Verletzte und Tote unter den Leuten vom Treck und unter den Soldaten. Da der Hof völlig überfüllt war mit den Verletzten, wurden wir aufgefordert, wieder zu unseren Wagen zu gehen, denn der Treck fuhr weiter.

Es war der 6. Mai, mein Geburtstag, aber niemand außer mir dachte daran. Unterwegs sahen wir auch die eilig aufgeschütteten Gräber, hier und da ragte noch ein Fuß oder ein Bein hervor.
Durch Olmütz waren wir schon durch, auch durch Müglitz, weiter fuhr der Treck über das Schönhengstgebirge nach Zwickau. Da war es vorbei. Es war der 8. Mai 1945. Der Krieg war aus. Hier hatten uns die Russen überholt und ausgeraubt. Ein Weiterfahren gab es nicht mehr, wir drehten um. Wir waren gerade fünfzehn Tage von zu Hause fort. Es erwartete uns das totale Chaos. Es wimmelte von Russen, sie hatten ja Plünderungsfreiheit. Auch die Vergewaltigungen wurden immer schlimmer. Immer mehr Tschechen und Slowaken kamen in den Ort und besetzten deutsche Häuser. Ich weiß nicht mehr warum ich anfing aus Holzscheiten Löffel zu schnitzen. Als ich meiner Mutter den ersten zeigte, sagte sie: „Geh und bring ihn der Blaschke Liese, der haben sie alles genommen, die hat nicht einmal mehr einen Kochlöffel.

So kam der Juli 1946. Wir bekamen die Nachricht, dass wir uns am 9. Juli um 4.30 Uhr vor dem Narodni Vibor zum Abtransport einzufinden haben.
Mitnehmen durften wir bis zu 50 kg Gepäck. Um 9.00 Uhr wurden wir ins Lager gebracht. Keiner wusste, ob wir die Heimat noch einmal wiedersehen würden…“

Aus: „Nicht immer singen im Leben die Vögel“ – Erinnerungen an die nordmährische Heimat,
von Walter Hanel.

Breslau, Hauptstadt Schlesiens, Januar 1945

An unserer Wohnsiedlung in Pilsnitz führte die Straße nach Schmiedefeld vorbei. Auf ihr kamen nach den Weihnachtstagen stundenlang Trecks gezogen. Wir und die Nachbarskinder brachten den Leuten heißen Tee und Brot. Woher diese Flüchtlinge kamen wussten wir nicht. Auch von Vater wussten wir nichts. Er war Soldat in Frankreich. Auf eine Weihnachtspost von ihm hatten wir vergeblich gehofft.

Bis zu unserer Flucht am 20. Januar 1945 fiel in unserem Stadtteil keine Bombe. Tags zuvor kam Tante Gretel mit ihren fünf Kindern aus Posen mit dem Zug nach Breslau zu uns und wollte hier in der Festung bleiben. Meine Mutter sagte: "O Gott, wir müssen doch morgen auch gehen." Am 19. Januar abends kam einer von der Partei, angezogen wie ein „Goldfasan“, in unsere Wohnung und gab uns knapp die Order: „Es ist so weit, ihr müsst morgen zum Hauptbahnhof. Zwei Koffer genügen, in vierzehn Tagen könnt ihr wieder zurück.“ Mutter packte die wichtigsten Sachen für die Flucht in Koffer. Es war bitter kalt, so legte sie für uns zwei Pullover hinein. Mein Bruder war sieben, ich fast neun. Da wir unbedingt unsere Briefmarkenalben mitnehmen wollten, nahmen wir dafür heimlich einige warme Sachen aus dem Koffer.

Alle kinderreichen Familien und Schwangere mussten an diesem Tag „raus aus Breslau“. So verließen wir am 20. Januar mit Tante Gretel, Oma und Opa und vielen anderen Menschen die Stadt. Unsere ‚anbefohlene Reise’ fand jedoch schon kurz vor Bunzlau ein vorläufiges Ende, weil bei Mutter die Geburt des dritten Kindes bevorstand. Wir wurden mit dem Krankenwagen nach Kittlitztreben in ein von der Herrschaft verlassenes Schloss gebracht, wo Winfried zur Welt kam. Nach zwei Wochen ging es nicht wie groß angekündigt wieder zurück, sondern per Zug weiter nach Bautzen. Eine Woche später per Lastwagen nach Leipzig, Unterkunft in einer Schule. Von dort wurden im März mit dem Zug, nonstop in einer Nachtfahrt, über Regensburg in das 25 km entfernte Eggmühl verfrachtet. Der letzte Teil der nun offenkundigen Flucht erfolgte mit Erntewagen der Bauern, bespannt mit Ochsen oder Pferden nach Pinkofen. Dort bekamen wir eine kleine Wohnung zugewiesen. Obwohl die Flüchtlinge im Leben der Bauern und der Dorfgemeinschaft zunächst als ‚fremde Störung’ empfunden wurden, waren wir Kinder bald gefragte Erntehelfer und Kühehüter, alles nur für "eine Brotzeit".

Erinnerung von D. Schmidtke an die Flucht aus Breslau


Orte wo Heimat - Fremde
Fremde

Als endlich die Räder still standen
die der Panzer, der Kinderwagen, 
der Pferde- und Kuhgespanne, 
der Handwägelchen, der Güterbahn-
waggons, die Räder jener Zeit 
verwiesen

an einen Ort
an dem die Vogelsprache fremd 
und Blüten vom Frost verbrannt

Wo manchmal in der Stille
die Saiten von einst
zu schwingen begannen

und eine Leere
hinterließen
größer als Brot 
mit Himbeermarmelade

Und doch trug jeder Atem
bange Hoffnung


Orte wo Heimat
Orte wo Heimat 

Manchmal – lange noch -
ein wenig wie 
auf der Flucht
das aufgeschreckte 
zurückblicken

nein da ist … nichts …

nur ...

Orte wo Heimat
Weichen stellt
bleiben im Herzen